30/8/2020 2 Comments Blog #15 - die reise nach fukuokaFreunde des zweifelhaften Humors, hier bin ich mal wieder! Ihr könnt beruhigt sein, die Tiere in Kyoto haben mich seit den letzten dramatischen Vorfällen grösstenteils in Frieden gelassen. Totgeweihte leben eben doch etwas länger.
Aber - und nun kommt es - weiteres Unheil braute sich bereits am Himmel zusammen. Dazu aber später mehr. Es waren meine letzten Tage in Kyoto. In den Tiefen des Internets entnahm ich, dass es eine Stadt weit im Süden der japanischen Insel geben würde, welche gerade dabei war sich als neues Mekka für Jungunternehmen (Startups) zu etablieren. Also fackelte ich nicht lange. Dort musste ich hin. Die Gret(a)chenfrage war lediglich, soll ich die Strecke mit dem Flugzeug oder der Bahn zurücklegen? Ab in den Süden Ich entschied mich für *Trommelwirbel* den Shinkansen. Genauer gesagt für den „Nozomi-Superexpress“. Ein Geschoss von einem Zug. Wer jetzt gerade kein Bild im Kopf hat wie die Dinger aussehen, das sind diese Züge mit der ultra-langen Nase. Beim neuen Super-Shinkansen ist die Nase sogar sage und schreibe 22 Meter lang und jagt mit über 400 km / h über die Schienen. Zudem soll noch in diesem Jahrzehnt eine neue Magnetschwebebahn kommen. Im April 2015 fuhr ein Versuchszug 603 km/h. Zum Vergleich, die SBB in der Schweiz fährt auf ihrem schnellsten Streckenabschnitt mit 200 km / h. Keine Frage, die Japaner sind stolz auf ihren Shinkansen. Unter anderem auch wegen der Pünktlichkeit. Diese wird hier nämlich nicht in Minuten, sondern in Sekunden gemessen. Allerdings - das muss man fairerweise auch noch sagen - werden Verspätungen wegen Wetter oder anderen unvorhersehbaren Ereignissen in der Statistik nicht als solche aufgeführt. Dies wird bei uns in der Schweiz anders gehandhabt. Weit wichtiger als die Pünktlichkeit und die Geschwindigkeit ist allerdings die Sicherheit. Aber auch hier wird bei den Japanern auf anderem Niveau gearbeitet. Seit der Inbetriebnahme im Jahre 1964 bis heute ist es zu keinem einzigen Unfall mit Todesopfer gekommen. Allerdings, im Herbst 2014 entgleiste bei einem Erdbeben der Stärke 6,8 das erste Mal ein Zug - ohne Verletzte. Die Züge sind nämlich mit einem Erdbebenfrühwarnsystem ausgestattet. Wenn ein Erdbeben registriert wird, schaltet sich automatisch der Strom ab und der Shinkansen leitet eine Notbremsung ein. Die neuste Generation der Züge soll dann mit Luftbremsen auf dem Dach und mit Magnetplatten in der Nähe der Schienen die Vollbremsung noch zusätzlich unterstützten. Freunde, wir müssen uns warm anziehen. Die Asiaten sind bereit für die Zukunft. Nicht heute! Doch noch bevor ich mich auf die Reise in die Stadt begab, welche an genau dieser Zukunft arbeitet, stelle ich erschrocken fest, dass sich bereits wieder ein Vogelnest auf meinem Kopf gebildet hatte. Also suchte ich mal wieder einen Friseur. Yasutoshi Nishimura, Japans Minister für wirtschaftliche Wiederbelebung (diesen Posten gibt es hier wirklich) würde wahrlich Freude an mir haben, unterstütze ich als einer der einzigen verbleibenden Ausländer doch regelmässig das gebeutelte Kleingewerbe. An einer Strassenecke im zweiten Obergeschoss eines alten Hauses sah ich durch die Fenster hindurch etwas, was nach einem Friseursalon aussehen könnte. Sicher war ich mir nicht, aber ein Versuch war es wert. Ich tappte die Treppe hoch und betrat die grosszügige Räumlichkeit. Im Inneren herrschte reges Treiben. Etwa zehn Kunden waren bereits auf den Stühlen platziert. Es folgte die übliche Verwirrung. Wer wagt sich, den Amerikaner anzusprechen? Irgendjemand? Keiner? In Gebärdensprache wurde ich dann von einem mutigen Angestellten in eine Warteecke getrieben. Nach zehn Minuten schaute man, ob ich noch nicht freiwillig wieder gegangen bin. Nach weiteren 5 Minuten näherte sich mir ein überdurchschnittlich schüchterner Angestellter. Auf seinem Smartphone war bereits die Übersetzungsapp geöffnet. Very sorry! Dort stand: „I am really sorry. You have Corona!“ Ha! Dachte ich. Kleiner Übersetzungsfehler. Doch auch die restlichen Übersetzungsversuche schossen alle in etwa die gleiche Richtung. Die Story war wie folgt: Während der Fledermauskrise waren sie von ihrem Chef angehalten worden keine ausländischen Kunden anzunehmen. Dem Mitarbeiter war es aber derart peinlich, dass er mich bis hinunter und hinaus auf die Strasse rausbegleitete und sich insgesamt über 15 Mal vor mir verbeugte. Er tat mir wirklich etwas leid. Natürlich liess ich ihn wissen, dass es überhaupt kein Problem für mich sei. Ich werde es einfach an einem anderen Ort versuchen. Fünf Minuten später fand ich eine sehr alt-eingesessene Coiffeuse in einer verwinkelten Nebenstrasse. Die alte Forelle schnippelte aber immer noch wie zu besten Zeiten. Erst zuhause vor dem Spiegel stellte ich etwas erstaunt fest, dass sie hinter meinem linken Ohr noch ein ganzes Büschel Haar vergessen hatte. Auf nach Fukuoka Frisch gestrählt und gebügelt machte ich mich dann auf zum Bahnhof Kyoto. Dann raste ich mit über 300 km/h südwärts in eine Stadt mit dem poetischen Namen Fukuoka-Shi. Die Stadt war ursprünglich durch einen Fluss geteilt. Auf der einen Seite befand sich die Handelsstadt „Hakata“. Auf der anderen: Fukuoka. Letztere wurde von Samurais regiert. Erst 1889 wurden die beide Städte fusioniert. Einer Legende nach hörte eine Gruppe von Samurais, dass die Abstimmung über den neuen Namen der Stadt verloren gehen wird und ihre Stadt somit in Hakata umgetauft werden würde. Also stürmten die Krieger kurzerhand die Sitzung. Heute heisst die Stadt Fukuoka. Was lernt man daraus? Reden ist immer eine Lösung. Allerdings heisst sowohl der Bahnhof als auch der Hafen weiterhin Hakata Station und Hakata Port. Nachdem ich mich nach der rasanten Fahrt in einem neuen Airbnb in Hakata eingenistet hatte, machte ich mich auf eine erste Erkundungstour. Zumindest wäre das der Plan gewesen. Man erinnere sich: Einmal die Strasse hoch und dann wieder die Strasse runter. Doch an Vaters Rat war diesmal nicht zu denken. Es regnete wie aus Eimern. Es regnete sprichwörtlich Katzen und Flughunde. Und es regnete ausnahmslos jeden Tag - sintflutartig - und das den ganzen Tag. Nach etwa einer Woche hatte ich wieder ein Rhythmus. Und auch der neue Startup Hub erfüllte die Erwartungen. Mir wurde alles erklärt und gezeigt. Nach weniger als einer halben Stunde hatte ich bereits ein Termin für einen Pitch bei einem Investor. Insgesamt präsentierte ich mein Startup drei Mal. Wertvolle Erfahrungen vor internationalen Investoren. Die verrückte Japanerin Dann eines Abends auf dem Nachhauseweg rollte ich am Hakata Bahnhof die lange Rolltreppe hinauf. Da es Rush-Hour war, wimmelte es nur so von Menschen. Tausende Japaner in perfekt geschnittenen Anzügen strömten auf die verschiedenen Busse, Züge oder Metros. Und ich? Ich war vermutlich der einzige Weisse auf dem ganzen Bahnhofsgelände. Gerade als ich oben ankam, rannte eine junge, hübsche Japanerin direkt auf mich zu. Ihr engelartiges Antlitz hätte euch alle in den Wahnsinn getrieben. Aufgeregt fragte sie, ob ich Japanisch spreche. Ein kleines bisschen - antwortete ich. Sie wolle mit mir ein Foto machen. Nun, dachte ich, ist doch kein Problem. Allerdings plante sie das Foto nicht gleich vor Ort zu machen. „I am crazy Japanese!“ sagte sie. „very crazy“. Das hat mir gerade noch gefehlt hier. Der Foto-Automat war nämlich nicht im Bahnhofsgebäude, sondern einen kleinen Fussmarsch davon entfernt - erzählte sie mir. Ob das nicht eine dieser Touristenfallen war? Bei apokalyptisch starkem Regen rannten wir in Richtung eines 10-stöckigen Elektronikmarktes. Dann ging alles plötzlich schnell. Sie warf Geld in den Automaten, zog den Vorhang zu…und… plötzlich hatte ich Katzen-Ohren, übergrosse runde Augen oder rote Backen. Sie hatte sich vor Aufregung unterdessen komplett verloren. Völlig ausser sich war sie. Immer wieder schrie sie „Kawaii! Kawaii!“ (süss!! Süss!!). Was daran genau süss war, ist mir zwar bis heute ein Rätsel, aber Spass hatte es allemal gemacht. Es gab in den letzten Monaten unzählige Situationen, in der eine gewisse Faszination für weisse Haut direkt oder indirekt deutlich zu spüren war. Letztens zum Beispiel war ich mit einem Japaner in einem trendigen Burgerladen essen. Die junge Dame im Service fragte meinen Kollegen dann ganz direkt, wie man hier weisse Freunde finden kann. Panierte Schnitzel Eine andere Geschichte spielte sich in meinem absoluten Liebling- Tonkatsu-Restaurant ab. Dort servierte eine quirlige 65-Jährige Japanerin seit über 40 Jahren (!) panierte Mega-Jumbo Schnitzel zu atemberaubenden günstigen Preisen. Der Laden hat schon so manche bekannten japanischen Gesichter und sogar japanische TV-Crews angezogen. Die Inhaberin selbst spricht zwar nahezu unverständliches Englisch, aber sie hat derart viel Selbstvertrauen, dass es ihr absolut nichts ausmacht auch nach fünf Versuchen noch nicht aufzugeben. Ganz anders der 20-jährige Student, welcher zwischen Küche und Service mithilft. Sein in der Schule erlerntes Englisch hatte er vermutlich noch überhaupt nie in seinem Leben anwenden müssen. Und er wäre auch froh gewesen, wäre es nie so weit gekommen. Die Inhaberin empfand meine Anwesenheit als einmalige Gelegenheit und einen absoluten Glücksfall - für ihn. Sie erzählte mir noch stolz, dass der Junge im Gegensatz zu ihr selbst nämlich sehr gut Englisch spricht - weil in der Schule gelernt! „Ha!“, dachte ich. Man sollte den Tag nie vor dem Abend loben. In meiner Familie gibt es auch einige Kandidaten, welche nach 5 Jahren Französisch Unterricht lediglich die drei Wörter „Hallo, Katze und Tisch“ sagen können. An dieser Stelle ein Gruss an die beiden Angesprochenen. Voller Aufregung und auch voller Vorfreude rief die Inhaberin den Namen des Studenten durch das Restaurant hindurch. Der Student dagegen stellte sich taub - oder tot. Also ging sie ihn holen. Dieser schlängelte sich aber sogleich ab in die Küche. Durch das Servicefenster sah ich eine längere Diskussion vonstattengehen. Weil diese offensichtlich nicht fruchtete, schob sie den Studenten kurzerhand mit beiden Händen zurück ins Restaurant. Die Situation erinnerte mich etwas an einen Hund, der gerade realisierte, dass die Reise wohl zum Tierarzt führen würde. Immer wieder versuchte er sich abzuwenden - vergeblich. Letztlich packte sie ihn kurzerhand am T-Shirt Kragen und zog ihn bis zu meinem Tisch im hinteren Teil des Restaurants. Dort drehte sie ihn noch demonstrativ in passende Position, klopfte ihm zweimal auf den Rücken und sagte: „Jetzt sprich!“. Der Unterhaltungswert für alle Gäste im Restaurant war hier bereits am überkochen. Ich versuchte es dem Student so einfach wie möglich zu machen und warf ein paar simple Fragen in den Raum: Name, Alter, Hobbies. Natürlich lobte ich ihn am Schluss noch überschwänglich für seine tolle Aussprache, sodass er mit erhobenem Haupt zurück zur Chefin konnte. Die Erleichterung war im buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Man glaubt es kaum, aber heute - einen Monate später - ist er jeweils der Erste der aus der Küche gerannt kommt, wenn ich das Restaurant betrete. Man könnte fast glauben ich sei sein Lieblingsgast. Er kommt vor, während und nach dem Essen freiwillig an meinen Tisch. Er macht gar Witze mit mir und ist wohl auch ein kleines bisschen stolz, wenn er vor der Chefin, den anderen Mitarbeitern und den Gästen mit mir Englisch sprechen kann. Eine berührende Geschichte mit erstaunlicher Wendung. Weltuntergangsstimmung Allerdings gibt es auch eine traurige Geschichte zu berichten. Die dunkeln Wolken über Fukuoka zogen nicht ab. Es regnete wochenlang ohne Unterbruch. Das hatte dramatische Konsequenzen. In der Region wurde die allerhöchste Unwetter-Alarmstufe ausgerufen. Als ich eines Abends aus dem Fukuoka Startup Hub mit der Metro nach Hause fahren wollte, waren Teile des Metro- und Bahnverkehrs eingestellt. Direkt daneben wurde ein Notfall-Zentrum errichtet. Hunderttausende Bewohner in der Region versuchten sich vor den Regenfällen in andere Teile des Landes in Sicherheit zu bringen. Ausländern wurde geraten die Region zu verlassen. Während die Stadt Fukuoka selbst glimpflich davonkam, forderten massive Überschwemmungen in der Nachbarspräfektur Kumamoto 67 Tote. Noch heute leben 1470 Menschen in Notunterkünften. Über 5000 Häuser wurden beschädigt. Gemäss japanischen Medienberichten fielen bis zu 100 Millimeter Regen pro Stunde. In der Schweiz werden 30 Millimeter Regen pro Stunde bereits als Starkregen bezeichnet. Wie es in Fukuoka, Hakata und Kumamoto heute aussieht, zeige ich euch etwas ausführlicher im nächsten Blog-Post. E-Mail Benachrichtigung bei neuem Blog-Post aktivieren? Hier klicken Airbnb Gutschein einlösen? Hier klicken
2 Comments
Roland Näf
31/8/2020 08:59:24
Hallo Andrin
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Andrin
1/9/2020 20:40:54
Danke Roland! Es ist wirklich ein faszinierendes Land mit tollen Menschen - und gutem Essen! :)
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Wer ich bin?Mein Name ist Andrin. Ich komme aus der Schweiz und stehe durchschnittlich zwei mal pro Jahrzehnt vor tektonischen Veränderungen in meinem Leben. |