10/2/2020 0 Comments Blog #8 - Ran an die HaarwurzelDass es ein erster Härtetest werden würde, war mir schon vor dem Betreten des Friseursalons bewusst. Gefunden habe ich diesen auf dem Weg von meiner Unterkunft zur nächstgelegenen Metrostation. Den Namen der Lokalität würde ich euch gerne verraten, kann ihn aber weder aussprechen noch buchstabieren. Nennen wir ihn daher doch stellvertretend einfach „Coiffeur zur goldenen Haarwurzel“.
Auf den Besuch hatte ich mich gut vorbereitet, wahrscheinlich besser als auf jede Schulprüfung. Noch in der Schweiz, direkt nach dem letzten Haarschnitt, fotografierte ich zuhause meine Birne in einem quasi 360-Rundum Panoramafoto. Ich hätte dann einen Musterhaarschnitt zum Vorzeigen, dass würde die Kommunikation mit einem chinesischen Friseur bestimmt erheblich erleichtern - dachte ich mir. Staunende Blicke Hauptziel war es übrigens, um jeden Preis nicht mit einem Dikatorenschnitt à la „Kim Jong-un“ aus der goldenen Haarwurzel herauszukommen. Sollte aber möglich sein, schliesslich war ich ja in China und nicht in Nordkorea. Also wagte ich mich rein: Zuerst grosses Staunen - ooooh, uuuuh. Dann grosse Unsicherheit - hat sich da ein Weisser verlaufen? Wer hilft ihm? Ein Kunde rollte auf dem Stuhl sitzend dem Coiffeur davon, um vom hinteren Teil der Räumlichkeiten aus ebenfalls noch einen Blick auf mich werfen zu können. Ein weiterer Kopf beugte sich schüchtern um eine Topfpflanze herum. Unter den Angestellten wurde ausgejasst, wer mich in Empfang nehmen könnte. Also schickten sie denjenigen mit den besten Englischkenntnissen. Witz - diesen gab es natürlich nicht. Also schickten sie den Mutigsten. Das aber brachte auch nichts. Als sie merkten, dass ich das Ganze durchaus mit Humor nehme, lockerte sich die Stimmung relativ schnell. Ich machte mit Zeigefinger und Mittelfinger die bekannte Schere über meinem Haupt und deute dabei auf mein Haar. Dann wurden mir - selbstverständlich auf Chinesisch - von allen Seiten nochmals viele Fragen gestellt. Jeder dachte, mit seinem Chinesisch könnte ich es möglicherweise doch noch verstehen. Furchtloser Knopf Letztlich wurde ich dann auf einen Stuhl gepflanzt. Spannungsgeladen fieberte ich der Ankunft der Schere entgegen. Diese kam aber nicht. Stattdessen kam ein kleiner Lausbub mit Pilzfrisur angerannt. Voller Selbstvertrauen blieb er neben mir stehen, schaute mir in die Augen, wartete für zwei Sekunden und schrie dann in maximaler Lautstärke „Okay!“. Dann galoppierte er von Freudigkeit erfüllt zurück zu seiner Mutter. In diesem Moment wusste ich nicht, ob ich mich über seinen aufgebrachten Mut mit mir Englisch zu sprechen freuen oder mich doch eher vor einem drohenden Pilzhaarschnitt fürchten sollte. Also schwing ich mich auf dem Drehstuhl einmal um die eigene Achse und streckte ihm den Daumen hoch, worauf er vor Freude fast die Wände hochging. Waschanlage Wieder wartete ich auf die Schere und ihr Herrchen. Was aber ankam war eine chinesische Dame. Es folgte nicht der erste Schnitt sondern eine kleine Haarwasch-Zeremonie. Das kenne ich aus Europa - dachte ich mir. Im Waschraum fand ich aber keine Stühle vor, auf welchem man seinen Nacken platzieren und den Kopf nach hinten biegen konnte. Stattdessen waren da ganze Liegen (Bild unten) und am Ende dann sowas wie ein Waschbecken. Da liegst du also wortwörtlich flach wie auf einer 3-Grad Physioliege. Dann begann die eigentliche Zeremonie. Wasser, Seife, Kopf-Massage. Danach mehr Wasser, mehr Seife, und noch mehr Massage… Nach zehn Minuten dachte ich, jetzt sind wir höchstwahrscheinlich im Endspiel. Es war der Auftakt. Was hier geschrubbt, gerieben und einshampooniert wurde, kenne ich derzeit nur aus den chinesischen Metros. Langsam bekam mich ein ungutes Gefühl, wenn das noch lange so weiter geht, würde sie bald meine aufgeweichte Schädeldecke durchdringen. Nach nahezu dreissig Minuten durfte ich wieder aufstehen und fühlte mich in etwa wie eine Katze, welche in den Schleuderdurchgang einer Waschmaschine geraten war. Auf dem Stuhl konnte ich mich dann aber erholen und bekam ein warmes Glas Wasser. Schwierige Kommunikation Dann endlich erschien ein (exzentrisch gekleideter) Coiffeur hinter mir. Dieser „besprach“ mit mir den geplanten Haarschnitt. Die Geräusche, welche wir beide von uns gaben, hätten auch von exotischen Tieren stammen können. Da es mit Tönen nicht funktionierte, zeigte ich ihm die Bilder auf meinem Smartphone. Diese interessierten ihn aber nicht. Das war der Moment, in dem ich mental resignierte und die weisse Fahne wedelte. Gewissensbisse plagten mich. Die Schere setzte an - schnippelte aber nicht. Stattdessen wollte er dann doch nochmals die Bilder sehen. Licht am Ende des Tunnels. Ich zog die Fahne wieder ein. Ob er jetzt doch auf die Dikatorenfrisur verzichten würde? Dann ging es los. Alles wurde mit der Schere erledigt. Die elektrische Haarschneidemaschine kam nicht zum Einsatz. Und es wurde wirklich gut. Das Kunstwerk dauerte aber auch einen halben Morgen. Immer wieder schnippelte er nochmals etwas hier und nochmals etwas da. Ob er die absolute Perfektion anstrebte? Der finale Schliff Es konnte sich wirklich nur noch um Sekunden handeln. Alle Seiten hatte er mindestens vier mal bearbeitet. Hinter mir flitzte der Pilz umher und über die leeren Coiffeurstühle. Dann griff mein Coiffeur nach der Haarschneidemaschine. Zum Abschluss, dachte ich, würde er noch den Nacken rasieren - das kenne ich. Die Maschine fing an zu rattern. Statt an den Nacken ging er mir aber an die Stirn. Er setzte an unterster Stelle der ersten Haarreihe an. Im gleichen Moment fiel mir das Herz in die Hose. Er würde mich doch nach einer einstündigen Operation nicht einfach kahl scheren wie ein Schaf? Bevor ich etwas sagen konnte, fielen die ersten Haare. Wie ein philippinisches Pferd ausschlagen konnte ich aber auch nicht, sonst würde auch noch die zweite Garde Haare fallen. Also liess ich es über mich ergehen. Wieder Gewissensbisse. Hat sich vielleicht meine Schädeldecke verschoben, und er versucht jetzt verzweifelt zu retten, was es noch zu retten gibt? Dann realisierte ich, was gerade geschah. Er bearbeite effektiv nur die vordersten Haare meiner Stirn, um die Linie von den Scheitelpunkten links und rechts gerader zu machen. Die goldene Haarwurzel strebte nach der absoluten Perfektion. Und fand diese. Kamera - bitte lächeln! Ebenso beeindruckend sind übrigens die Eingänge zu meinem Fitnesscenter im Stadtzentrum von Shenzhen. Dort öffnen sich die Eingangsschleusen durch Gesichtserkennung. Man muss weder eine Karte, noch das Smartphone oder sonst etwas aus den Taschen kramen, sondern kann einfach durchlaufen. Danach folgt zwar aus ausserordentlichen Gründen noch die Temperaturkontrolle auf der Stirn, aber mit einer derart geraden Haarlinie halte ich meinen Kopf noch so gerne hin. Das Trainieren mit der Maske ist unterdessen aber obligatorisch. Auf dem Laufband rennen ist da definitiv keine Freude mehr. Nach dem Vulkanstaub in Manila, dem Virus in China und dem Schweiss vom Fitness ist meine Maske unterdessen sowieso am Rande der Belastungsgrenze angekommen und gehört ersetzt. Chinesische Internet-Mauer Genau so ersetzen musste ich übrigens meine sogenannten VPN-Anbieter. Da in China viele Websites, wie zum Beispiel Google und Facebook, blockiert sind, muss man die Chinesische Firewall irgendwie umgehen. Vereinfacht gesagt täuschen VPNs vor, dass man in einem anderen Land sitzt. In den ersten Tagen hatte das alles noch wunderbar funktioniert. Doch dann kam das chinesische Neujahr. Von verschiedenen lokalen Kontakten habe ich vernommen, dass die Regierung um diese Feiertage die VPN-Anbieter vermehrt bekämpft und die Programme lahmlegt. Nach mehreren Tagen in der beinahe Offline-Welt installierte mir dann ein übergewichtiger chinesischer Hacker aus der Unterwelt eine Lösung, welche auch in diesen schwarzen Tagen funktionierte. Als Dank ging ich mit ihm essen. Daran hatte er enorm Freude. Das erkannte ich daran, dass er nahezu 50% der verfügbaren Gerichte auf der Karte orderte. Und chinesische Speisekarten sind ja bekanntlich nicht gerade klein. Beinahe wollte er mir noch eine Hühnerkralle unterjubeln. Dank meiner Nachfrage nach einer detaillierteren Übersetzung konnte ich das aber gerade noch verhindern. Nach dem Essen war ich wie gemästet. Als wir dann mit überfüllten Mägen im WeWork-Büro erschienen und uns gerade auf das Sofa fallen liessen, kam die Nachricht rein, dass wegen dem Virus auch dieses Büro am folgenden Tag die Pforten für unbestimmte Zeit schliessen würde. Weitere Hiobsbotschaften Ebenso kam die Meldung rein, dass meine Sprachschule wegen dem Virus die Klasse nicht wie geplant Anfangs Februar beginnen kann. Obwohl nur auf Ende des Monats verschoben, ist nicht klar, wann und wie es weitergehen wird. Dann brachen im Tagesrhythmus Neuigkeiten hinein, dass Airlines sämtliche Verbindungen nach China bis auf Weiteres aufgeben. Die Schlinge schien sich langsam zuzuziehen. Auch ich machte mich daran, mir verschiedenste Optionen auszumalen. Ob es tatsächlich eine Flucht aus China wird?
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Wer ich bin?Mein Name ist Andrin. Ich komme aus der Schweiz und stehe durchschnittlich zwei mal pro Jahrzehnt vor tektonischen Veränderungen in meinem Leben. |