Royaler Empfang Zuerst vorweg: Mein Bild von Mexico bestand vor der Reise vereinfacht gesagt aus Kaktus, Esel und Avocado. Höchste Zeit also das wahre Mexiko kennenzulernen - dachte ich. Nach der unvergesslichen Zeit in Asien und einem etwas ausgedehnteren Boxenstopp in der Heimat, ergatterte ich im Sommer 2021 einen erstaunlich preiswerten KLM Flug von Zürich über Amsterdam nach Mexiko City. Als ich dann am niederländischen Schiphol Flughafen den Avocado-Bomber nach Lateinamerika betrat, passierte etwas Unglaubliches. Sämtliche Passagiere streckten der Cabin Crew wie üblich die Bordkarte entgegen, um dann in den richtigen Korridor eingewiesen zu werden. Doch dann, ausgerechnet bei mir, klatschte und jubelte ein männlicher Flight Attendant in einer Lautstärke, die ohne jegliches Übertreiben bis weit in die Holzklasse zu hören war. Etwas weniger Aufmerksamkeit - oder besser gesagt gar keine Aufmerksamkeit - wäre mir wirklich lieber gewesen. Bald würde er noch die Bengalen zünden - dachte ich. Als der junge Mann endlich vom Gejohle ablassen konnte, gratulierte er mir aber aufrichtig und durchaus fachkundig zum Sieg über die “Grand Nation” und deutete dabei mit seinem Zeigefinger auf den Schweizer Pass. Die Fussball-Nationalmannschaft hatte am Tag zuvor an der Europameisterschaft mit ihrem Sieg über Frankreich offensichtlich Wellen geschlagen. Ich nahm stellvertretend mal ein paar Lorbeeren entgegen. Immigrationsdschungel Dann ging es für mich ab durch die Schleusen der Mexikanischen Einreisekontrolle. Hier gab es aber alles andere als Applaus. Mein Leben wurde richtiggehend durchleuchtet und zwar von einer korpulenten, mexikanischen Dame. Das Aussergewöhnliche: Bei jeder Frage setzte sie meinen Vornamen davor. Andrin, was arbeitest du? Andrin, warst du letztes Jahr in der Volksrepublik China? Andrin, wo ist dein Wohnsitz? Als es mir zu bunt wurde, antwortete ich auf eine ihrer stechenden Fragen mit; “Andrin freut sich jetzt wahnsinnig darauf das aufregende Mexiko zu entdecken!” Das half enorm. Sie stempelte den Pass und liess mich springen. Der Drang nach mobilen Daten Danach kaufte ich mir direkt am Flughafen eine Sim-Karte. Die Verständigung mit dem Verkäufer war gelinde gesagt anspruchsvoll. Spanisch kam mir auch nach der Ankunft immer noch komplett Spanisch vor und dem Englischen war Juanito alles andere als mächtig. Mein einziges Ziel aber war es, einfach nicht schon in der ersten Stunde auf mexikanischem Boden über den Tisch gezogen zu werden. Nach einem freundlichen Hin und Her wollte Juanito 350 Pesos. Das kommt etwa hin - dachte ich. Er drückte mir die Quittung in die Hand und klärte mich in einer beinahe buddhistischen Ruhe über die einzelnen Positionen auf dem Beleg auf. Als ich wieder zurück auf der Erde war, sah ich aber nur noch die Zahlen 200 Pesos und 100 Pesos auf dem Zettel. Wohin ich die restlichen 50 Pesos gespendet hatte, weiss ich bis heute nicht. Die erste Taxifahrt Mit den neuen mobilen Daten auf meinem Smartphone orderte ich dann ein Uber-Taxi zur Unterkunft. Das Wetter war milde ausgedrückt grauenhaft. Als ich dem Mexikaner auf dem Fahrersitz verriet, dass ich aus der Schweiz bin - jubelte er. Also erntete ich weitere Lorbeeren. Bald würde ich diese gegen eine Avocado tauschen können. Dann endlich Ankunft in der Unterkunft. Unterdessen war es Nacht und es regnete immer noch aus allen Kanonen. Blitz und Donner schlugen direkt über mir ein. Bei solchem Wetter erheben sich in den Filmen normalerweise die Grabdeckel. Das Taxi hielt direkt vor einer Gittertür. Hier drinnen sollte dann also irgendwo meine Bleibe zu finden sein - dachte ich. Direkt seitlich neben der Tür lag ein ganzes Heer betrunkener und opiat-besetzer Obdachlose. Freunde der Nacht Nun, gemäss meinen lokalen mexikanischen Kontakten befindet sich die Unterkunft in einem Zitat “sicheren Stadtteil”. Dies habe ich vorgängig pflichtbewusst abklären lassen. Ich solle einfach nur nördlich, westlich und südlich laufen. Ein kleiner Wink mit dem Zaunpfahl also. Der Taxifahrer war so freundlich und wartete die ganzen fünf Minuten, bis mich der Vermieter meiner Unterkunft ins Gebäude liess. Nach dieser kleineren Odyssee liess ich mich anschliessend direkt ins mexikanische Bett kollabieren. Der Kontrast dann am nächsten Morgen hätte nicht grösser sein können. Als ich hinter derselben Gittertür einen Blick auf die Strasse erhaschte, dominierte Sonnenschein und blauer Himmel. Dort wo mich zuvor das Taxi beinahe den Haien verfütterte, stand ein klassischer mexikanischer Pickup Truck vor einer roten Ampel - welche durchaus auch respektiert wurde. Der Fahrer hatte seine avocado-grüne Kappe cool gegen hinten gerichtet und den Ellbogen ebenfalls cool auf dem offenen Fenster gelehnt. Aus dem Inneren donnerte fröhliche Latino Musik in einer ohrenbetäubenden Lautstärke. Jeder Kaktus am Strassenrand würde bei diesen Schallwellen sämtliche Stacheln verlieren. Zu meiner grossen Überraschung waren unterdessen alle Obdachlosen mit Seife und Wischer bewaffnet und reinigten für ein paar Pesos die Frontscheiben der Autofahrer, welche am Lichtsignal zum Stillstand gekommen waren. Meist zwar gegen deren Willen, aber das ist eine andere Geschichte. Erste Erkundungstour Dann wagte ich mich ein erstes Mal hinaus in die mexikanische Wildnis. Ich öffnete die grosse Gittertür, galoppierte unauffällig an den hart-schuftenden Scheibenputzern vorbei und drehte mich zur grossen Kreuzung gleich neben dem Burger Falter McDonalds. Direkt vor mir sicherte ein Polizei-Pickup Truck mit 5 schwer bewaffneten Polizisten den strategischen Verkehrsknotenpunkt in diesem Stadtteil - notabene stehend auf der Ladefläche. Nochmals so ein Wink mit dem Zaunpfahl. Also kontaktierte ich abermals meinen lokalen mexikanischen Kontakt. Mir wurde aber erneut bestätigt, dass mein Viertel zu den sicheren Orten in Mexico City gehört. Einzig die nächtlichen Schusswechsel können temporär mal etwas Schlaf rauben. Kleiner Scherz. Von ihm. Die Polizeiautos fahren sowieso immer mit Blaulicht. Die Sirene macht dann noch den Unterschied ob es ernst gilt oder nicht. Wochenendausflug Nestor, der mexikanische Programmierer, trommelte bereits am ersten Wochenende nach meiner Ankunft einige seiner Kollegen zusammen und organisierte einen Ausflug nach San Miguel. Die Stadt ist etwa vier Autostunden von Mexico City entfernt und bietet anscheinend sämtliche Klischees von Mexiko auf einem einzigen Haufen - also Kaktus, Esel und Avocado. Bereits in der ersten Stunde in San Miguel ass ich ein Esel, bestaunte einen Kaktus und dann spazierte mir auch noch eine Avocado entgegen. Oder andersrum. Aber fast so spektakulär wie das Städtchen selbst war die Fahrt dahin. Ein Kollege von Nes gabelte mich vor meinem Airbnb mit dem Auto auf. Noch bevor ich einsteigen konnte, wurde dessen Frontscheibe von einem meiner Obdachlosen eingeseift. Schaut man es aus diesem Blickwinkel an, ist meine Unterkunft hervorragende positioniert. Vor dem Eingang scheint sowas wie das Hauptquartier der Scheibenputzer zu sein. Wer auch immer mich mit dem Auto auflädt oder ablädt wird mit absoluter Sicherheit mit sauberer Frontscheibe wieder losfahren - ob er will oder nicht. Mexikanische Raubritter Heute pflege ich ich ein seltsam-zwiespältiges Verhältnis zu dieser Bande. Ihr Revier liegt offensichtlich direkt an meiner Unterkunft. Sie arbeiten von früh morgens bis weit nach Mitternacht. Ich gehe stark davon aus, dass sie sämtliche Personen genau kennen, welche regelmässig ihr Territorium durchkreuzen. Mich nennen sie “guerito” (blondie). Mit meiner hellen Haut falle ich auf wie ein bunter Hund. Meine Kollegen erzählten mir später, dass die Autoscheibenputzer eigentlich niemand wirklich brauche, trotzdem gehören sie heute zur Stadt dazu. Sie seien “bad boys” - keine Frage. Bereit alles zu tun. Aus diesem Grund bringe ich den mexikanischen Raubrittern beim Vorbeigehen immer mal wieder ein paar Burger oder ein Stück Pizza. Dies kann entweder als Geste der Barmherzigkeit oder aber als Tributzahlung angesehen werden. Der Löwe beisst doch nicht in die Hand, die ihn füttert. Oder etwa doch? Die Fahrt in den Norden Zurück zum Wochenendausflug: Am Stadtrand von Mexico City gabelten wir nochmals einen Mexikaner auf. Die Fahrt nach San Miguel war aufgrund der herrschenden Regenzeit nicht ganz einfach. Mehrfach setzte Starkregen ein und flutete ganze Strassenabschnitte. Dann plötzlich, bei vollem Tempo, ein Reifen mitten (!) auf der Autobahn. Ein kleines Ausweichmanöver war notwendig. Eine Reaktion der beiden Mexikaner blieb aber zu meinem Erstaunen aus. Also schlug ich vor, die Polizei zu informieren, da ein äusserst gefährliches Hindernis mitten auf der Fahrbahn lag. Mein Argument überzeugte nicht. Sie erklärten mir, dass Mexikaner wann immer möglich die Polizei nicht kontaktieren würden. Am späteren Nachmittag setzte erneut starker Regen ein. Wir drosselten das Tempo. Kurze Zeit später rückte ein verunfalltes Auto in unser Blickfeld. Sollen wir vielleicht diesmal die Polizei rufen? Fragte ich. “Der lebt noch”, sagte einer der beiden als wir etwas langsamer am Wrack vorbei fuhren. Als wir kurz vor San Miguel erneut an einen Unfall heranfuhren, warteten die beiden gespannt auf meine Reaktion. Ich schlug dann aber selbst vor, die Polizei nicht zu rufen. Die Unterkunft in San Miguel war gigantisch. Die Stimmung fantastisch. Hinter bunten Fassaden versteckten sich traumhafte mexikanische Restaurants, Cafés, Boutiquen und Kunstgalerien. Jahrhundertealte Bauten gaben der Stadt einen ganz speziellen Charakter. Überall wurde Live-Musik gespielt. Esel, Kaktus und Avocados kamen uns in Massen daher geritten. Der Mittag am Abend Die folgenden Wochen dann verbrachte ich hauptsächlich in Co-Working Büros. An einem Samstag lud mich Nes zu sich nach Hause ein. Auf seiner Terrasse liess es sich ebenfalls gut arbeiten. Seine Mutter und die hauseigene Köchin aus Guatemala waren ebenfalls anwesend. Pünktlich um 15.45 wurde das Mittagessen serviert. Rindfleisch, Reis, Gurken, Salat, Avocado und noch etwas Beilagen und Saucen. Dazu natürlich Tortillas. Es bedurfte zwar noch einer kurzen Nachfrage meinerseits, ob dies nun ein verspätetes Mittag- oder ein verfrühtes Nachtessen war. Die Haupt Mittagszeit hier ist 14:00 Uhr. Als ich letztens im McDonalds um 11:57 Uhr ein Big Mac wollte, klappte das nicht, da um diese Uhrzeit lediglich von der Frühstückskarte bestellt werden konnte. Tatort Taco-Stand Dafür sind aber zahlreiche Street-Food Stände rund um die Uhr geöffnet. Von einem Bekannten bekam ich einen geheimen Tipp, wo es besonders köstliche Tacos geben soll. Die Hygiene bei diesen Strassenverkäufern ist aber mitunter grenzwertig. Mir wurde gesagt, sollte ich mich effektiv für Street Food entscheiden, dann nur über einen Kontakt der seine Hand für diesen Stand ins Feuer legen könne. Also riskierte ich es. Als ich am Zielort ankam, hatten die Mexikaner hinter dem Stand besonders Freude an mir. Wieso wusste ich nicht. Vielleicht sahen sie den weissen Fressfeind bereits von Weitem daher geschlichen gekommen. Bei der Bestellung sprach ich sowas wie “uno”, deute auf einen Fleischhaufen und ergänzte mit “por favor”. Dies war zwar falsch, funktionierte aber einwandfrei. Als ich meine Ohren spitzte, hörte ich das die beiden Strassenköche zu einem Lied mit dem Refrain “Mi doctora favorita” tanzten und dabei meinen Taco mit Fleisch füllten. Ein Schelm wer Böses dabei denkt. Die Treppe des Grauens Wie ein kleiner Putzerfisch schlang ich dann aber sämtliches Essbares in mich hinein - und überlebte. Eine geplante Entwurmung am Folgetag wurde storniert. Am Tag danach ging ich dann aber wieder mal ein richtiges Ramen jagen. Lang lebe Ramen! Mein Co-Working Büro ist ganz in der Nähe eines ausgezeichneten japanischen Restaurants. Aber auch mein Co-Working Büro war ausgezeichnet, besass es doch eine Dachterrasse im sechsten Stock. Der Haken dabei: Rauf kam man nur über eine haarsträubend-wacklige Feuertreppe. Mehr als einen Esel und vielleicht noch einen Kaktus könnte diese definitiv nicht tragen. Heute kann ich sagen, dass ich trotzdem relativ oft von ganz oben arbeite. Dies obwohl meine innere Stimme mir sagte, dass wenn die Feuertreppe die Haupttreppe ist - dann fehlt eigentlich noch eine Feuertreppe für den Notfall. Nun, um diese Gedanken zu vertreiben summe ich beim Raufklettern jeweils “mi doctora favorita”. Mexikanischer Schreiberling Im dritten Stock zu Arbeiten hat nämlich ebenfalls einen klitzekleinen Haken. Am Gemeinschaftstisch sitzt in der Regel ein Typ, der könnte durchaus als Marderschreck Karriere machen. Aber weitaus schlimmer ist, dass sein Laptop bei jedem (!) Tastenanschlag einen kurzen Pfiff von sich gibt. Das muss man sich mal bildlich und vor allem akustisch vorstellen. Würde dieser wie meine Mutter mit beinahe 500 Anschlägen pro Minute in die Tastatur hämmern, das wäre nicht zum Aushalten. Das tut er aber nicht. Der Marderschreck schreibt nämlich nicht besonders gerne. Eigentlich wollte ich ihm diese gepfeife mal in den Computer-Einstellungen ausschalten, dann kam mir aber in den Sinn, dass ich dies auf Spanisch kaum hinkriegen würde. Also entschied ich mich die Kopfhörer anzuziehen und “Mi doctore favorita” laufen zu lassen. Nach einigen Wochen kann ich zusammenfassend also sagen, dass ich wunschlos glücklich bin in dieser Stadt. Ich geniesse die gute, fröhliche und äusserst sichere Stimmung hier. Das Essen ist top. Die Menschen sind überdurchschnittlich hilfsbereit. Und ich freue mich auch daran immer mit sauberen Frontscheiben herum chauffiert zu werden.
2 Comments
Naef Roland
20/8/2021 07:45:33
Hallo Andrin
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Andrin
21/8/2021 00:09:45
Danke Roland. Immer toll von dir zu hören :)
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Wer ich bin?Mein Name ist Andrin. Ich komme aus der Schweiz und stehe durchschnittlich zwei mal pro Jahrzehnt vor tektonischen Veränderungen in meinem Leben. |