25/10/2020 0 Comments Blog #17 - Typhoon im AnflugFreunde, hier bin ich mal wieder mit der neuesten Hofberichtserstattung. Auch in Japans Politzirkus läuft nicht alles reibungslos.
Unter der Regierung von Shinzo Abe wurden charmanterweise sämtliche japanische Haushalte mit Masken beliefert. Dies kostete die Steuerzahler zwar etwa 26 Milliarden Yen oder umgerechnet 225 Millionen Schweizer Franken - doch immerhin waren nun alle Bürger versorgt. Der einzige Haken an dieser ganzen Aktion war aber, dass ausnahmslos alle meine japanischen Freunde die Masken direkt in den Abfalleimer befördert hatten. Auch in der Öffentlichkeit trägt sie, ausser Abe selbst, niemand. Die Masken sind nämlich derart klein, dass es kaum möglich ist die Nase und das Kinn gleichzeitig zu bedecken. In Anspielung auf das ebenfalls von Abe lancierte Konjunkturprogramm „Abenomics“ (Abe + Economics) nennen die Japaner diesen Beschaffungs-Skandal unterdessen nur noch „Abenomask“. Stören tut das Shinzo Abe allerdings kaum. Denn unmittelbar nach der Auslieferung sind die Infektionszahlen im ganzen Land tatsächlich drastisch gesunken. Abe war fest davon überzeugt, dass dies auf seine Massnahmen zurückzuführen ist - und plante die Bevölkerung umgehend mit einer zweite Lieferung Masken zu versorgen. Letztlich konnte ihn nur noch die Opposition davon abhalten. Ob „Abenomask“ oder „Abenomics“, Japans Parlament hat diesen Monat ‚Yoshihide Suga‘ zum neuen Regierungschef ernannt. Ihm wird zwar nachgesagt über wortwörtlich keinerlei Charisma zu verfügen - aber solange er seine Bevölkerung nicht mit hässlichen Masken beglückt, wird es die Mehrheit der Japaner nicht grossartig kümmern. Sündig wie die Nacht Dass die erzkonservative japanische Regierung und ihre Vorgänger in den letzten Jahrzehnten aber nicht alles falsch gemacht haben, erlebe ich tagein, tagaus auf den japanischen Strassen. Das subjektive Sicherheitsgefühl hier ist unglaublich hoch. Selbst zu später Stunde, an Wochenenden oder rund um die Bahnhöfe und Metro-Stationen herrscht internatsartige Zucht und Ordnung. Da findet man auch weit und breit keine Koksnase. Als bekennender Nachtfalter ist es nämlich durchaus möglich, dass ich vereinzelt auch unter Mondlicht noch auf Futtersuche bin und dabei die eine oder andere dunkle Gasse abseits der traditionellen Touristenpfade durchkämmen muss. Meist finde ich dann eine frittierte Beute mit etwas Reis oder Nudeln in einem der zahlreichen ‚24-Hour‘ Restaurants. Nachforschung im Sicherheitsapparat Täuscht dieses Sicherheitsgefühl oder ist Japan wirklich so sicher? Um diese Frage zu beantworten bin ich tief ins Archiv der Japanischen Sicherheitsbehörden eingetaucht und habe mir die Kriminalstatistiken von Japan herausgepickt. Der Vergleich mit der Schweiz und Deutschland ist doch erstaunlich: Japan 127 Millionen Einwohner Registrierte Straftaten in 2018: Total 817’000 Schweiz 8 Millionen Einwohner Registrierte Straftaten in 2019: Total 432’000 Deutschland 83 Millionen Einwohner Registrierte Straftaten in 2018: Total 5,5 Millionen In der Schweiz und Deutschland werden laut dieser Statistik etwa zehn Mal mehr Straftaten registriert als in Japan. Inwiefern diese Zahlen effektiv vergleichbar sind, kann ich nicht abschliessend beurteilen. Es bestätigt aber zumindest meine Wahrnehmung, dass hier eindeutig etwas weniger dieser zwielichtigen Gestalten in der Gegend herumgeistern. Ich bleibe an diesem Thema dran. Gottvertrauen Zusammen mit meinem Computer verbrachte ich letztens einen Nachmittag in einem sogenannten "Remote Work Café". Meist ist das eine Fusion zwischen einem Café-Restaurant und einer Co-Working Räumlichkeit mit schnellem Internet. Da keine Tische mehr frei waren, setzte sich ein Japaner mit seinem Gerät direkt neben mich. Noch bevor er mit der Arbeit begann, löste er seine dicke Golduhr vom Handgelenk und deponierte diese auf dem Tisch neben seinem Computer. Soweit nichts Spezielles. Noch keine Minute gesessen und kein Wort mit mir gewechselt, liess er das iPhone, sein MacBook sowie die Uhr unbeaufsichtigt auf dem Tisch und verschwand für eine Viertelstunde in einen Nebenraum. Offensichtlich ging er nicht davon aus, dass ich einen langen Finger haben könnte. Frisch aus der Gucci Boutique Weiter ist mir aufgefallen, dass viele Japaner ihr Geld bevorzugt in diesen länglichen Portemonnaies aufbewahren. Ein Grund dafür ist, dass die Banknoten dann nicht gefaltet werden müssen. Der weitaus wichtigere Aspekt ist vermutlich aber eher modischer Natur. Denn gerade die jüngeren Japaner mit männlichen Geschlechtsmerkmalen stecken ihre Gucci oder Hermès Portemonnaies noch so gerne in die hintere Hosentasche. Folglich glitzert dann beinahe die Hälfte des Geldbeutels aus der Hose heraus - aber das ist ja offensichtlich so gewollt. Was für mich ebenfalls wie eine Einladung für Langfinger aussieht, scheint hier in Japan selten zu Problemen zu führen. Der Regentanz Ein Leben hier könnte wirklich äusserst angenehm sein - wären da nicht diese ständigen Umweltkatastrophen. 300 km südöstlich von Tokyo treffen gleich drei tektonische Platten aufeinander. Dementsprechend oft und häufig vibriert hier die japanische Unterwelt - und die darüberliegende Betonwüste. Auch Tsunamis, Starkregen, Hitzewellen und Typhoons halten die Krisenstäbe dauerbeschäftigt. Es war einer dieser Tage, da brannte ich richtiggehend darauf, mich in meinem Fitnesscenter in Hakata auszuhecheln. Nach Stunden vor dem Computer - und mit mehreren Bechern Insta-Nudeln daneben - ist dies nämlich keine Qual, sondern ein Segen. Inspiriert von der neuen japanischen Box-Hoffnung ‚Naoya Inoue‘ schlug ich beinahe die Tür aus dem Rahmen, als ich das Haus verliess. Draussen war es warm und wolkenlos - zumindest soweit ich über die Häuserflanken hinaussehen konnte. Zielgerichtet und stramm wie ein Einheimischer marschierte ich dem kürzesten Weg nach durch unzählige Gassen. Auf ziemlich genau halbem Weg fing es völlig unerwartet zu tropfen an. Ich ahnte Böses und erhöhte den Laufschritt. Kurz vor einer Bahnunterführung brachen alle Dämme. Es war ein Platzregen wie eine Sintflut. Die Tropfen durchlöcherten beinahe mein sieben Jahre altes, schwarzes H&M T-Shirt. Ich rettete mich gerade noch so in die Unterführung. Ein spätsommerliches Gewitter Es sah nicht danach aus, als ob der Regen bald vorüberziehen würde. Zwei Damen vor mir hatten zwar einen Schirm, hofften vorerst aber ebenfalls auf eine rasche Wetterbesserung. Es donnerte. Über uns raste ein Shinkansen durch. Dann aber wagten sich die Damen hinaus in den Regen. Sayonara! Ein Junge auf einem alten Fahrrad durchquerte die Unterführung. Mit einer Hand hielt er den Lenker fest, mit der anderen den Schirm. Ich warf einen Blick aus der dunklen Unterführung hinaus in den Regen. Zwei Frauen in der Ferne schienen vom Regen ebenfalls überrascht worden zu sein. Sie überquerten die Strasse katzenhaft-rennend und ebenfalls ohne Schirm, verschwanden dann aber direkt in einem angrenzenden Wohnhaus. Erweckungsgottesdienst Unterdessen war der Himmel komplett bedeckt. Ich kam zur Einsicht, dass dies noch lange dauern könnte. Hier stand ich nun also - alleine und ohne Schirm - ich Nuss. Auf Google Maps suchte ich verzweifelt den nächsten 7-Eleven oder FamilyMart. Wäre dieser nahe genug, könne ich in vollem Galopp dorthin sprinten und mir einen günstigen Schirm kaufen. Oder ich könnte in einem nahegelegenen Ramen-Shop Unterschlupf finden. Lang lebe Ramen. Nase läuft. In Gedanken versunken sah ich im Augenwinkel ein Fahrrad auf mich zukommen. Zu meiner Überraschung hielt es unmittelbar vor mir an. Es war der Junge von zuvor. An seinem Lenker war ein zweiter Schirm angehängt, diesen streckte er mir wortlos entgegen. Ich konnte es kaum glauben. "Für mich?", frage ich überhastet. Er nickte mit dem Kopf. „Danke! Das ist unglaublich.” Bevor ich noch etwas anderes sagen konnte, war er bereits wieder weg. Warum ich Japan so mag? Das war die Antwort. In Erinnerung würde er mir noch lange bleiben. Der Junge mit dem Schirm. Aus dem Nichts aufgetaucht - und genauso schnell wieder verschwunden. Hätte ich in seiner Situation das gleiche getan? Ich weiss es nicht. Aber ich bin mir ziemlich sicher, seine Blutgruppe muss „O“ gewesen sein. Japanische Nachrichten Das Fitnesscenter erreichte ich dank dieser guten Japanischen Seele halb-trocken und nur feucht und nicht nass. Auf dem Fernseher an der Wand lief gerade der Wetterbericht. Lesen konnte ich die Meldungen zwar nicht, aber die Bilder sahen ungemütlich aus. Auf dem Bildschirm flimmerte die Grafik eines Typhoons - und dieser nahm direkten Kurs auf Fukuoka. Nach dem Vulkanausbruch in den Philippinen, den Fluchten aus Shenzhen, Manila und Osaka sowie der Überschwemmung in Kumamoto hat mir ein Typhoon dieses Jahr gerade noch gefehlt. Ich staunte nicht schlecht, als ich die Wetterprognose zuhause dann auch noch etwas detaillierter auf Englisch studierte und dort mit Erschrecken feststellen musste, dass innerhalb weniger Tage nicht ein Typhoon, sondern zwei Typhoons auf Fukuoka zu rasten. Während der erste Typhoon noch vergleichsweise harmlos dahergewirbelt kam, wurde wenige Tage später beim zweiten Typhoon die ganze Stadt in ein Koma versetzt. In einer beispiellosen Aktion wurde für die Hälfte der Stadt eine Evakuierungsempfehlung herausgegeben. Das sind etwa 770’000 Menschen - darunter auch mich. Für Fukuoka war dies der stärkste Typhoon seit Jahrzehnten. Weltuntergangsstimmung Die verantwortliche Person der Abteilung Katastrophenschutz und Krisenmanagement in der Stadt, sagte: "Ich erinnere mich nicht, dass ich jemals eine solche Empfehlung abgeben musste." Selbst außerhalb der direkt betroffenen Gebiete wurden Personen aufgefordert, in Notunterkünfte oder Häuser von Verwandten zu evakuieren. Bei solchen Vorhersagen flatterten mir direkt wieder die Hosen. Wenn das so weitergeht mit den diesjährigen apokalyptischen Abgründen, müsste ich mich bald mal in eine Delfintherapie begeben. Ab Mittag wurden Einkaufszentren, Restaurants und Geschäfte geschlossen. Später wurde der Metro-Verkehr für 24 Stunden eingestellt. In meinem Gemischtwarenladen um die Ecke war das Wasser ausverkauft und die Regale der Insta-Nudeln gehamstert. Regale im Plural. Fukuoka hatte 223 Notunterkünfte eröffnet, darunter Gemeindezentren und Grundschulen. Vorsichtshalber ging ich meine Notunterkunft besichtigen und fand zahlreiche Familien und ältere Menschen vor. Viele gebrechliche Personen in scheinbar biblischem Alter wurden von ihren erwachsenen Kindern dort in Sicherheit gebracht. Auch die Familie eines Freundes, welche nahe an der Küste in einem alten Haus wohnt, liess sich für zwei Tage in einem etwas baufesteren Hotel in der Stadt einquartieren. Wie die Nacht des Typhoons ausgegangen ist, schreibe ich euch aber im nächsten Blogpost. Bis dahin, denkt an den Schirm wenn ihr das Haus verlässt. Man kann sich nicht darauf verlassen, dass ein Japaner mit Bluttyp O angeradelt kommt. E-Mail Benachrichtigung bei neuem Blog-Post aktivieren? Hier klicken Airbnb Gutschein einlösen? Hier klicken
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Wer ich bin?Mein Name ist Andrin. Ich komme aus der Schweiz und stehe durchschnittlich zwei mal pro Jahrzehnt vor tektonischen Veränderungen in meinem Leben. |