Unterdessen sind einige Wochen in Fukuoka vergangen. Die Zeit der starken Unwetter hatte ich abwechselnd im „Startup Hub“ und zuhause in meinem trockenen Bau verbracht.
Als die Sonne nach mehreren Wochen endlich wieder mal hervorgekrochen kam, verschlug es mich direkt an den sehenswerten, weissen Sandstrand von Fukuoka. Gleich dort befindet sich nämlich der 234 Meter hohe „Fukuoka Tower“. Zum Vergleich notiere ich euch die Höhenangaben einiger Prachtbauten dieser Welt: 126 Meter - Prime Tower, Zürich 324 Meter - Eiffelturm, Paris 368 Meter - Fernsehturm, Berlin 634 Meter - Skytree, Tokyo Der 50 Millionen USD teure Bau wurde 1989 fertiggestellt und soll Erdbeben der Stärke 7 und Windgeschwindigkeiten von bis zu 233 km/h standhalten können. Das schwerste aufgezeichnete Erdbeben in der Region war eine glatte 6 auf der Richterskala und die höchste Windgeschwindigkeit wurde mit 180km/h registriert. Neue Freunde Unterdessen hatte ich bereits wieder einige neue Leute kennengelernt und schlenderte mit diesen regelmässig durch die japanischen Gassen. Aufgrund der kulturellen Unterschiede kann es durchaus sehr interessante und spezielle Gespräche geben. Mit der Zeit gewöhnt man sich daran. Aber dann - eines Tages bei einem spätabendlichen Flussuferspaziergang - fragte mich doch tatsächlich ein Japaner, welche Blutgruppe ich hätte. Nun, ich mache mir ja traditionell viele Gedanken über das Leben, das Ableben und das Erleben. Aber eine solche Frage hatte ich mir auch in der Blütezeit meiner Findungsjahre nie gestellt. Blutige Sache Also recherchierte ich etwas im Internet und fand Folgendes: die Japaner sind teilweise ziemlich besessen mit Blutgruppen. Auch auf der Internetseite meines lokalen Fitnesscenters stellten sich die Mitarbeiter mit Namen, Hobbies, Lieblingstier und Blutgruppe vor. Hoch im Kurs stehen Blutgruppen angeblich auch bei Studenten während der Paarungszeit. Dabei geht es darum die andere Person besser kennenzulernen. Angeblich kann man sich beim Beschnuppern an folgender Liste orientieren: Blutgruppe: A - schlau, ordentlich, aber etwas langweilig B - etwas egoistisch, aber mit Führungsqualitäten O - etwas träge aber kommt mit Leuten gut aus AB - Genie! Leider weiss ich bis heute nicht, was für Blut durch meine Arterien und Venen zischt. Sollte meine Familie das wissen, bitte ich hiermit offiziell um Auskunft. Futtersilo Eine weitere nennenswerte Attraktion in Fukuoka ist übrigens das „Ramen-Stadium“. Zumindest ist es das für mich. Hier komme ich unkompliziert an meine 700 Yen Befriedigung. Das Stadion ist eine populäre Ansammlung von acht verschiedenen Ramen-Restaurants in der obersten Etage des bekanntesten Einkaufscenter in Fukuoka. Ich war gerade dabei mit einem Japaner einen Termin für ein Essen im Ramen-Stadion zu vereinbaren, da schrieb er mir doch glatt, dass er kurzfristig in das vom Unwetter getroffene Überschwemmungsgebiet Kumamoto gereist sei. Ich spitzte meine Ohren. Der Familie einer Freundin sei das ganze Haus geflutet worden. Nun sind sie am Aufräumen. Also fragte ich, ob ich ebenfalls helfen könne und fand mich bereits am nächsten Morgen um sechs Uhr in der Früh am Bahnhof Hakata wieder. Bahnhofsbummel Verzweifelt versuchte ich noch etwas Schweizer Schokolade aufzutreiben, fand aber lediglich irgendwelche Hakata-Muffins in einem gerade öffnenden Touristenladen. Mit dem Shinkansen raste ich 40 Minuten südwärts nach Kumamoto. Dort holte mich die Mutter der Kollegin meines Kollegen mit dem Auto ab. Nach weiteren 20 Minuten trafen wir bereits in der ehemals komplett überfluteten Region ein. Am Strassenrand stapelten sich tonnenweise Schwemmholz. Mittendrin Kühlschränke, Kleider und Spielzeuge. Die erste Brücke überquerten wir problemlos. Die zweite Brücke war eingestürzt. Wir waren gezwungen, mit dem Auto einen riesigen Umweg zu fahren, da die Ortschaft nicht mehr direkt angefahren werden konnte. Herzlicher Empfang Vor Ort bescherte man mir einen herzlichen Empfang. Es standen Getränke, Snacks und gespendete Kleider zur Verfügung. Ich zog einen wasserfesten Arbeitsanzug an. Der Schlamm war teilweise meterhoch und hatte buchstäblich ganze Autos gefüllt. Die Liegenschaft gehörte ursprünglich Yatsushiro, einem etwa 80-jährigen Japaner. Der Mann besass eine Tankstelle, eine Autowerkstatt und ein Wohnhaus. Sein Lebenswerk und seine Existenz hatte er an diesem Tag verloren. Auch am Abend der Überschwemmung arbeitete er noch bis 18:00 Uhr in der Werkstatt. Um Mitternacht stand das komplette Erdgeschoss unter Wasser. Um 01:00 Uhr wurden die ersten Personen in direkter Nachbarschaft per Hubschrauber gerettet. Um 04:00 Uhr wurden auch er und seine Frau per Seilwinde vom japanischen Militär gerettet. Knochenjob Unsere Aufgabe war es, die kleinen Tanklastwagen, welche nicht weggespült wurden, vom Schlamm zu befreien. Dabei hatten wir ein paar Schaufeln, die Hände und zwei Hochdruckreiniger zur Verfügung. Im Haus nebenan halfen grössere Gruppen professioneller Freiwilliger mit nummerierten Armbänder Schlamm und Schutt aus den Häusern zu bringen. Am späteren Nachmittag kamen diese dann auch uns zur Hilfe. Die Frau von Yatsushiro und ein paar ihrer Freundinnen kochten am Mittag ein traditionelles japanisches Curry mit Reis. Nase läuft. Ich überreichte dem Ehepaar das kleine Geschenk aus Hakata und nutzte diese Gelegenheit ihnen zahlreiche Fragen zu stellen. Mein Kollege übersetze die Gespräche zwischen mir und den restlichen Japanern, welche allesamt kein Englisch sprachen. Dann fing er zu erzählen an... Sein Sohn hatte er bereits früh und unerwartet auf Grund einer Krankheit verloren. Von der Diagnose bis zum Tod verging weniger als ein Monat. Sein ganzes Leben hat Yatsushiro in Kumamoto verbracht und hier eine Existenz aufgebaut - bis zu diesem schicksalshaften Tag. Seine Tankstelle stand buchstäblich bis zum Dach unter Wasser. Auch die Werkstatt wurde voll getroffen. Das Wohnhaus ist heute unbewohnbar. Die Schäden, so wurde mir übersetzt, seien kaum von der Versicherung gedeckt. Während den Aufräumarbeiten fanden wir noch zwei eingerahmte Familienfotos im Schlamm. Unvergessen ist der Moment, als Yatsushiros Frau einige Minuten später schüchtern von hinten angeschlichen kam, um mir die vom Schlamm befreiten Fotos zu zeigen. Sie zeigte auf einen jungen Japaner auf dem Foto. Dann drehte sie sich um und deutete auf Yatsushiro. Bei diesem Bild war das Glas des Bilderrahmens gebrochen. Den Optimismus hatten Yatsushiro und seine Frau trotz allem nicht verloren. In drei bis sechs Monaten sei alles wieder bereit, gab er sich optimistisch. Ausser dem Wohnhaus. Naturquelle Am Abend fuhr man uns direkt zu einem Onsen - einem japanischen Badehaus mit Naturquelle. Die Sitze im Auto waren mit zahlreichen Plastiksäcken und grossen Folien abgedeckt. So würden sie das jeden Tag nach den Aufräumarbeiten machen, sagte man mir. Frisch geduscht und trocken wie ein gebackener Kuchen trafen wir uns am späten Nachmittag auf Tee und Kaffee in einem Wohnhaus von Freunden der Familie. Dort sind nun Yatsushiro, seine Ehefrau und einige Helfer temporär untergebracht. Die Stimmung war locker und fröhlich. Es gab undefinierbares Essen und noch nie gesehene Getränke. Es wurde viel gesprochen und gelacht. Der Abschied war dann aber sehr emotional. Yatsushiro und seine Frau begleiteten mich bis zur Tür und verbeugten sich tief und lange. Dann nahmen sie einen Schritt auf mich zu, um mir die Hand zu reichen. Etwas, was in der japanischen Kultur eigentlich nicht üblich ist. Sie schüttelten mir die Hand lange und hielten sie mit beiden Händen fest. Dann sagte Yatsushiro auf Englisch „Thank you. Thank you for your help!“ Die Wertschätzung von ihm und auch den Helfern war überwältigend. Mein Freund und eine Freundin von ihm kamen anschliessend mit mir zurück nach Fukuoka. Jemand aus Yatsushiros Familie hat uns ein paar Tausend Yen mit auf den Weg gegeben, man solle mich zu einem feierlichen „Yakiniku“ einladen - japanisches Barbeque. An diesem Abend wäre eigentlich - wie so oft - ein klassisches japanisches Ramen im Ramen-Stadion geplant gewesen. E-Mail Benachrichtigung bei neuem Blog-Post aktivieren? Hier klicken Airbnb Gutschein einlösen? Hier klicken
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Wer ich bin?Mein Name ist Andrin. Ich komme aus der Schweiz und stehe durchschnittlich zwei mal pro Jahrzehnt vor tektonischen Veränderungen in meinem Leben. |