26/5/2020 2 Comments Blog #12 - Wie ein gehetztes RehDie Ausreise
Nachdem mich der Australier und seine Frau in einer filmreifen Nacht und Nebel Aktion aus dem Moloch von Manila evakuiert hatten, nutzte ich die einsamen Stunden am Flughafen um mich mental auf die nächste Destination vorzubereiten. Viele Informationen über Osaka hatte ich nicht gerade. Aber es würde bestimmt wieder eine gute Zeit werden - dachte ich. Ich sass im Abflug-Gate und starrte in Gedanken versunken durch die riesige Panorama-Fensterfront auf einen bezaubernden Sonnenaufgang. Der Flughafen in Manila war komplett verwaist. Dutzende gegroundete Flugzeuge der asiatischen Billig-Fluggesellschaften liessen die Passagiere wissen, dass es ganz und gar keine normale Zeiten waren, in denen wir uns befanden. Der Flug nach Osaka verlief dann aber unspektakulär. Wer jetzt bereits wieder mit einer Filzmaus oder anderen kuriosen Geschichten gerechnet hatte, den muss ich hier leider enttäuschen. Diese Geschichten folgen später. Die Einreise Wie „anders“ Japan ist, merkt man nämlich relativ schnell. Genau genommen merkt man es bereits bevor man überhaupt offiziell in Japan eingereist ist. Zu Fuss ging es erstmals durch die üblichen sterilen Flughafengänge. Je näher ich aber dem Gepäckband kam, desto mehr Flughafenangestellte wiesen mir höflich den Weg. Diese standen meist in Gruppierungen von etwa drei bis fünf Personen nahe den klar beschilderten Abzweigungen und waren unfassbar besorgt, dass man sich nur um alles in der Welt nicht verläuft. Nach jeder korrekt erwischten Abzweigung stand gleich ein weiteres Grüppchen am Ende des nächsten Korridors. Kaum wurde man von diesen entdeckt, versetzte man sie gleichwohl ungewollt und schockartig in helle Aufregung. Über den Daumen gepeilt deuteten dann jeweils etwa zehn Hände bereits von weither zur nächsten Abzweigung. In den finalen Kurven, kurz vor der Gepäckausgabe, nickte ich dann einer dieser strammen Formation freundlich mit dem Kopf zu, worauf sich alle fünf Japaner synchron und beinahe 90 Grad nach vorne beugten. Da gehst du durch die Decke. Offensichtlich wird hier selbst ein Erdnusshändler behandelt wie der Kaiser von China. Die Gepäckausgabe selbst erreichte ich aber trotzdem nie. Die Koffer-Story Bei meiner Ankunft war die Anzahl Flughafenmitarbeiter um mehrere Faktoren höher als die der Passagiere. Und da ich einer der letzten meiner Gattung war, welcher überhaupt noch in Japan einreisen durfte, genoss ich eine Dienstleistung der Extraklasse. Weit am Horizont, wortwörtlich direkt vor der Passkontrolle, sah ich meinen Rollkoffer vereinsamt am Boden liegen. Ich schärfte meine kleinen Falkenaugen. Kann das wirklich sein? Wenn ja, wo liegt das Problem? Wieder stand ein kleines Bataillon an Flughafenmitarbeiter stramm daneben. Als ich mich als Besitzer vom Koffer zu erkennen gab, hievten sie diesen für mich auf und übergaben ihn mir direkt in die Hand. Offensichtlich wurde mir selbst der Weg zum Gepäckband abgenommen. Verrückte Welt. Dann ging ich wieder Erdnüsse verkaufen. Der Unterschlupf Die ersten Nächte verbrachte ich einer Jugendherberge. Diese war aber trotz des Tiefpreisangebots von derart hoher Qualität, dass ich mir ernsthaft Gedanken darüber machte, meine Zelte für die nächsten Wochen hier aufzuschlagen. Nach einigen Tagen traf dann auch der Mexikaner in Osaka ein. Über den Wohnraumvermittler Airbnb fanden wir etwas noch besseres zum selben Preis. Wer noch nie über Airbnb gebucht hat, kann dies übrigens hier tun und bekommt CHF 55.- Rabatt auf die erste Nacht. Ich meinerseits streiche dabei CHF 30.- ein und kann mir damit beispielsweise neue Erdnüsse kaufen. Emsige Geschäftstreiber Wie gutes Geschäften geht, lernt man sowieso von den Japanern. In zahlreichen buddhistischen Tempeln und Shintō-Schreinen kann man sogenannte „O-Mamori“ kaufen - japanische Glücksbringer. O-Mamori sind für alle denkbaren Situationen des Lebens erhältlich: Gesundheit, hohes Alter, Liebe, glückliche Ehe, komplikationsfreie Schwangerschaft, Bestehen von Examen, usw. Der Inhalt des Beutels ist aber oft nur ein Stück Papier. Ein weiterer Hacken ist, dass man ein O-Mamori nicht öffnen darf und diese nach einem Jahr ihre Wirkung verlieren. Dann muss man sie in Tempeln oder Schreinen verbrennen und gleich danach neue kaufen. Ein Schelm, wer jetzt Böses dabei denkt. Solche zweischneidigen, kapitalistischen Geschäftsgebaren würde ich nie unterstützen, geschweige denn selbst anbieten. Gerne könnt ihr aber auf den Airbnb-Weiterempfehlungslink klicken und eine erste Übernachtung buchen. Auf weiter Flur Vom Fledermaus-Virus war hier weit und breit nichts zu spüren. Zwar waren die grossen Touristenattraktionen geschlossen, sämtliche Restaurants und Geschäfte aber geöffnet wie eh und je. Selbstredend waren auch die meisten Tempel und Shintō-Schreine weiterhin zugänglich. Irgendwo muss man ja die abgelaufenen Glücksbringer verbrennen können. Aber bei all den Verlockungen, wir waren hier ja nicht nur zum Spass. Selbstverständlich liessen wir es uns aber nicht nehmen, während dieser Zeit auch mal den Aussenbereich der Burg von Osaka zu bestaunen. Der Zeitpunkt hätte nicht erfüllender sein können. Es war der Höhepunkt der Kirschblüten-Saison. Fantastische Erinnerungen in einer aussergewöhnlichen Zeit. In den Gassen Osaka ist eine etwas andere Welt. Persönlich haben mir die engen japanischen Seitengassen bei Nacht und etwas Nieselregen besonders gefallen. Das Essen ist Weltklasse. Die Leute sind ungemein höflich, aber gleichzeitig auch etwas kühl. Zudem ist mir eine überdurchschnittlich hohe Anzugsdichte und ein allgemein sehr eleganter Kleidungsstil über sämtliche Bevölkerungsschichten hinweg aufgefallen. Auf den Philippinen huschten wir noch mit den FlipFlops in den nächsten 7-Eleven. Hier kommen bereits verheerende Schamgefühle auf, wenn man nur schon daran denkt. In der Metro wird mit pfeiffen-geradem Rücken korrekt auf dem Sitz gesessen. Man spricht nicht und man futtert nicht. Das oberste Gebot ist die Mitmenschen nicht zu stören. Eingepfercht Die meiste Zeit verbrachten wir aber weiterhin in den Cafés dieser Stadt, während der Wuhan-Virus über Europa mit voller Kraft wütete. Das Buschtelefon liess mich aber wissen, dass ihr von Simonetta und Alain aufgefordert wurdet zuhause zu bleiben. Bleiben sie zuhause! Rester à la maison! Blaben se dahoam (Österreich)… Für uns war die Flucht nach Japan ein Schachzug sondergleichen. Für drei Wochen lief alles nach Plan. Die Insel war komplett verschont vom Chaos rund um den Globus. Wir genossen ein Leben in kompletter Freiheit und losgelöst von sämtlichen Problemen und Einschränkungen. Dies änderte sich schlagartig, als der Starbucks die Hälfte der Tische verschwinden liess. Das Frühwarnsystem Die Szene hat sich bis heute in meinem Gedächtnis eingebrannt. Wie jeden Tag, gut gelaunt und im Stile wie zwei Mittelstufen-Schulkinder vor dem Sportunterricht, stürmten ich und Nés morgens in unsere favorisierte Starbucks-Filiale im Herzen von Osaka. Alle waren sie da, die üblichen Verdächtigen. Die Kaffeeklatsch-Prinzessinen an der Fensterfront. Die Trulla vom Montagmorgen, wieder direkt unter dem grossen Bücherregal. Doch die Hälfte der Tische war weg. Beide blieben wir für einen Moment verwundert stehen. „Denkst du das gleiche wie ich?“, sagte ich zu ihm. Mir zitterten vor Angst die Nasenhaare. Meine Corona-Alarmglocken klingelten in maximaler Lautstärke. Dies war definitiv kein singuläres Ereignis. Genau so fing es auch in Shenzhen und in Manila an. Zuerst kommt das Desinfektionsmittel vor den Eingang, dann werden die Tische aus dem Lokal geschleppt und letztlich werden die Pforten komplett dicht gemacht - in der ganzen Stadt. Langsam fühlte ich mich wie ein gehetztes Reh. Hätte ich doch nur das passende O-Mamori gekauft. Ich Hirse. Ein bisschen Platz muss sein... Wieder berief ich eine Krisensitzung ein, diesmal inkludierte ich den Mexikaner. Eine Strategie für Plan B musste her. Wir müssten uns auf einen Monat in eigenen Räumlichkeiten einstellen und uns daher so positionieren, dass wir problemlos von zuhause aus arbeiten könnten. Daher benötigen wir eine Unterkunft mit einem grossen Tisch und akzeptablen Stühlen, ohne das sich nach zwanzig Minuten das Rückenmark zu verschieben beginnen würde. Eine Unterkunft mit Tisch zu finden war aber nicht mal so einfach in Japan. In sämtlichen Inseraten fanden wir lediglich kniehohe Bambustische auf einer Matte aus Reisstroh - dem „Tatami“. Es dauerte beinahe einen Tag, bis wir einen Knaller in Kyoto fanden. Also packten wir unsere sieben Sachen und flüchteten nach Kyoto, die einstige japanische Hauptstadt. Es erwarten uns buddhistische Tempel, viele Gärten, Kaiserpaläste und natürlich Shintō-Schreine. *** Und zum Schluss noch dies: Werte Leser, ich verkaufe neuerdings handgefertigte, digitale Glücksbringer. Das Glück hält aber nur bis zum nächsten Blog-Post. Und denkt daran, auch Haustiere könnten einen Schub Glück benötigen. Hunde, Katzen, Hamster, Flughunde, Pferde… Schnappt zu.
2 Comments
ROLAND NAEF
26/5/2020 14:00:53
Hallo Andrin
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Andrin
27/5/2020 12:28:10
Hallo Roland! Genial von dir zu hören!
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Wer ich bin?Mein Name ist Andrin. Ich komme aus der Schweiz und stehe durchschnittlich zwei mal pro Jahrzehnt vor tektonischen Veränderungen in meinem Leben. |