17/4/2020 0 Comments Blog #11 - Die Flucht aus ManilaQual der Wahl Kaum zu glauben, aber es war bereits wieder Zeit für einen Haarschnitt. Meine Fäden spriessten in atemberaubendem Tempo, ich konnte diesen beinahe beim Wachsen zusehen. Ob mir die Chinesen damals die Schädeldecke gedüngt hatten? Was in aller Regel absolut reibungslos vonstattengeht, wurde letztes Mal in der goldenen Haarwurzel zu einem Drama in vier Akten. Man erinnere sich: Verständigungsprobleme, eine Kopfmassage bis die Birne glühte, eine pfeiffengerade Haarlinie auf der Stirn und ein kleiner Pilzkopf der durch die Decke ging. In Manila ist der nervenaufreibende Gang zum Coiffeur allerdings bedeutend einfacher als noch in Shenzhen - dachte ich. Hier hatte ich nämlich gerade mal drei Optionen: Option 1: Der lokale Strassenfriseur. Hat dieser gerade keine Kunden oder Familienmitglieder auf seinem bunten Plastikhocker, füttert er wahrscheinlich seine vier Hühner oder wartet am Strassenrand bis die Sonne untergeht. Ob er das Geschäft bei den Behörden auch wirklich angemeldet hat und Steuern bezahlt, wage ich mal zu bezweifeln. Option 2: Der erfahrenen Quartierfriseur. Dieser hatte schon die ganze Nachbarschaft und alles was sonst noch rumgaloppiert (inkl. Hunden) auf dem Stuhl. Allerdings besitzt er auch effektiv eine Räumlichkeit. Die Decke scheint zwar jeden Moment einzustürzen, aber grundsätzlich lässt es sich mit einem Quäntchen Glück überleben. Option 3: Der Einkaufscenter-Friseur. Die Räumlichkeiten sind definitiv erdbeben- und wahrscheinlich auch vulkanstaubsicher. Die Tapete an der Wand hängt (noch). Alles ist sauber herausgeputzt. Der Haken: Das Preisschild zeigt etwa das Vierfache vom Quartierfriseur und das 10-fache vom Strassenfriseur. Dafür ist man bestimmt in guten Händen - dachte ich. Der Entscheid: Also entschied ich mich *Trommelwirbel* für Option 3 und damit die absolute Luxus-Variante, welche mit summa summarum CHF 7.- immer noch bescheiden günstig dahergeschnitten kommt. Wie viele Löhne man offensichtlich damit bezahlen konnte, überraschte mich dann aber doch. In den Räumlichkeiten befanden sich sieben (!) teilweise arg aufgedonnerte Damen. Eine davon machte den Empfang - und zwar nur den Empfang - obwohl ich der einzige Kunde weit und breit war. Eine andere Dame übernahm die überdurchschnittlich zärtliche Haarwasch-Zeremonie. Und eine Dritte machte letztlich den entscheidenden Schnitt. Der Rest der Gruppierung war nur Zuschauer. Soweit so halb-normal. Schnattergänse Wer jetzt aber glaubt, die nicht-involvierten Damen hätten sich dezent im Hintergrund aufgehalten, liegt falsch. Diese standen nämlich halbmondförmig um meinen Stuhl herum. Am Anfang dachte ich noch, der Haufen würde sich bald von selbst auflösen. Doch auch ich sah mich getäuscht. Offensichtlich war es derart spannend um diesen Stuhl herum, dass die Häuptlings-Coiffeusin die Schere während den regelmässigen Lachkrämpfen zwischenzeitlich gar ablegen musste. Es wurden auch immer mal wieder die neusten Nachrichten auf dem Smartphone gecheckt - oder mit den Kolleginnen Bilder und Nachrichten ausgetauscht - wohlgemerkt mitten während dem Schnitt. Die grosse Entdeckung Einen kleineren Schock erlitt die Anführerin der Bande, als sie mir mit dem Kamm und der Schere an die Stirn ging und eine gewisse Ungereimtheit entdeckte - ein ästhetisches Paradoxon. Ich erklärte es ihr. Dann folgte noch ein von langer Hand geplanter Verkupplungsversuch mit der jüngsten der Zuschauerinnen. Diese hätte durchaus bei Germany’s next Top-Nager mitmachen können - war sonst aber ganz lieb. Trotzdem, ich lehnte ab. Im Futterhaus Allgemein scheint es in den Philippinen ziemlich normal zu sein, dass man als einfachen Angestellten lediglich einer einzigen Aufgabe nachgeht. Bei Mang Inasal, einem Discount-Restaurant der Superlative, läuft einer der Servierdüsen stundenlang mit einem riesigen Topf voller Reis im Restaurant herum. Aufgrund des All-You-Can-Eat Konzeptes finden sich auch einige seltene philippinische Bären im Laden. Ein anderer Angestellter läuft zudem stundenlang mit lediglich zwei Krügen voller saurer Suppe um die Tische. Wer jetzt aber glaubt, man könnte den Typen mit dem Reis fragen, ob er später bei Gelegenheit noch mit der Suppe vorbei kommen könnte, der bekommt mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Korb. Mang Insala hat sich übrigens praktisch aus dem Stand heraus zu einem meiner Lieblingsrestaurants gemausert. Das hat womöglich damit zu tun, dass ich als Raupe Nimmersatt hier voll auf meine Kosten komme. Als ich den Laden das erste Mal mit einem lokalen Pinoy betrat, fand ich noch ein paar Hühnerknochen und Reis unter dem Tisch. Der Boden sah aus, als wäre vor wenigen Minuten gerade eine Raubtierfütterung zu Ende gegangen. Die Jollygang - das muss man ihnen lassen - reinigt da um Längen besser. Warum auch mit Besteck? Gegessen wird im Mang Inasal traditionell mit den Händen. Ich muss zugeben, ich habe noch nie einen ganzen Teller Reis auf diese Weise in mich hineingefuttert. Zuerst wurde mir empfohlen, den Reis mit Hühneröl einzufetten - damit dieser auch nach etwas schmeckt. Dann wurde mir erzählt, dass die philippinischen Jugendlichen hier nach der Schule gegeneinander wettfressen. Wer gewinnt, muss nicht bezahlen. Das erklärt auch die toten Knochen unter dem Tisch. Selbstverständlich konnte man aber auch einen Teller ohne den beliebten Nachschub-Service bestellen. Der Preisunterschied für die unlimitierte Variante war lediglich ein paar Peso. Die Marketinggenies von Mang Inasal hatten zu dieser Zeit gerade noch ein Aktions-Angebot ausgeheckt. Der Rabatt gegenüber dem Normalpreis war unglaubliche zwei Philippinische Pesos - also CHF 0.038 gegenüber dem Normalpreis. Der Holzdampfer Auch die Preise auf der Fähre - welche wir beinahe täglich benutzen um auf die andere Stadtseite zu kommen - hatte eine seltsam Preisliste. Die Fahrt dauerte knapp eine Minute. Das Boot selbst wurde vermutlich im gleichen Jahrzehnt wie die Arche Noah gebaut und hält sich auch nur deshalb noch über Wasser, weil die abgenutzten Michelin-Reifen rund um die Holzbretter noch nicht am Lebensende angekommen sind. Der Preis für die Fahrt muss irgendwo zwischen vier und acht Pesos gelegen haben - also umgerechnet etwa einen Rappen. Warum ich das nicht genau weiss? Rückgeld gab es je nach Wetterlage. Dem alten Mann hinter dem alten Holztisch habe ich Münzen in allen Variationen und Formeln gegeben - doch er winkt mich ausnahmslos jedesmal durch. Der Weltenbummler Dass es aber auch anders geht, fand ich heraus, als ich mit Max in einem arabisches Restaurant speisen ging. Nur einen Steinwurf entfernt vom bekannten Viertel mit dem wirtschaftlich nicht unbedeutenden Horizontalgewerbe, fand sich eine kleine versteckte Lokalität - mit einer, sagen wir mal "grösseren“ Preisliste. Der Inhaber reist seit vierzig Jahren um die Welt und hatte dabei ein paar Rezepte mehrheitlich aus dem arabischen und afrikanischen Raum mitgebracht. Allerdings hatte er vergessen, die Ladenhüter-Gerichte welche nicht so laufen aus der Karte zu streichen. Das Sammelsurium umfasst nun über 200 verschiedene Gerichte (mehrheitlich Curries in allen Farben und Formen). Das Beweisfoto der Monster-Speisekarte - übrigens mit immer noch bescheidenen Preisen - befindet sich ganz unten. Die grosse Flucht Dann brach die News hinein, dass Präsident Rodrigo Duterte aufgrund des Fledermaus-Virus den Grossraum Manila komplett abriegeln könnte. Auf das Gerücht folgte alsbald die Bestätigung. Also suchte ich einen sicheren Hafen in Asien und fand diesen in *Trommelwirbel* Osaka, Japan. Kaum gebucht, platze die nächste Bombe. Der Präsident empfahl den Ausländern, die Insel innerhalb von 72 Stunden zu verlassen. Auch die Schweizer Botschaft riet mir in einem E-Mail, mich an die Empfehlungen der Regierung zu halten. Also musste ich wohl oder übel auf einen früheren Flug umbuchen. Die einzige noch verfügbare Verbindung war am nächsten Morgen um 08:00 Uhr - oder anders ausgedrückt: in weniger als 12 Stunden. Gleichzeitig realisierte ich, dass nicht nur der komplette Jeepney-Verkehr eingefroren wurde, sondern auch der Taxi-Verkehr. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Auf die Fragen, wie man noch zum Flughafen kommt, wurde mir von mehreren Quellen gesagt, dass dies nur noch mit privaten Fahrzeugen möglich wäre. Um Mitternacht dann berief ich eine Krisensitzung mit mir selbst ein. Ich hatte zwar unterdessen Kontakte wie einen Telemast, aber jemanden um diese Uhrzeit noch mit einem Auto aufzutreiben erwies sich als Ding der Unmöglichkeit. Als alter Soldat weiss ich aber, dass jede Reise mit dem ersten Schritt beginnt und dass man jedes Ziel erreichen kann - wenn man nur will. Also heckte ich einen Plan aus. Nächtlicher Aufbruch Um 01.00 Uhr in der Nacht packte ich alle meine Sachen und räumte die Unterkunft. Mit dem Rollkoffer setzte ich mich neben die Einfahrt zum Wolkenkratzerkomplex. Der Blick auf die nahegelegene Brücke bestätigte, was ich bereits aus dem Fenster geahnt hatte. Manila wurde innerhalb weniger Stunden zu einer Geisterstadt. Auch die Sicherheitsleute an der Einfahrtsschranke versuchten private Taxifahrer aufzubieten. Doch ich realisierte schnell, dass ich mich darauf nicht verlassen konnte. Nach einer Stunde kam endlich mal ein Auto durch die Schranken. Ich hielt es an. Ein australischer Fahrer liess die Scheibe hinunter und fragte, wie er mir helfen könne. Auf der Rückbank und im Kofferraum stapelten sich massenweise Akten, 12 Computerbildschirme und viele weitere elektronische Geräte wie Mäuse und Tastaturen. Die Bedingung war, dass wir diese zuerst ausliefern müssten, bevor er mich am Flughafen hinauswerfen könne. Ich willigte ein. Von ihm und seiner philippinischen Frau wurde ich im arg überfüllten Auto mitgenommen. Im Eiltempo durch die Geisterstadt Wir düsten den verlassenen Strassen nach quer durch Manila. Ich schaute aus dem Fenster auf die schmalen und dunkeln Zufahrtsstrassen, wo normalerweise bis in die frühen Morgenstunde das Leben tobte. Doch die Menschen waren verschwunden. Es ist schwierig zu beschreiben, wie sich das angefühlt hatte. Die leeren Strassen. Die Ruhe. Die zahlreichen Militärcheckpoints. Alles wirkte unwirklich - nicht real. Mitten in der Stadt, zwischen den Hochhäusern und in den Gassen war keine Menschenseele weit und breit. Es war wie nach einer Apokalypse. Eine Stadt, die von den Menschen verlassen wurde. Alle im Auto schüttelten ungläubig die Köpfe. Dann widmeten wir uns wieder unserer Mission. Das Unternehmen seiner Frau musste innerhalb kürzester Zeit komplett auf Homeoffice umstellen und allen Angestellten vor Eintreten der kompletten Ausgangssperre die Bildschirme nach Hause liefern. Dies Zeit aber lief gegen uns. Die komplette Ausgangssperre würde in wenigen Minuten oder Stunden durchgesetzt. Mittendrin statt nur dabei Also half ich den beiden - und stand um 03:00 Uhr nachts plötzlich in zahlreichen Wohnzimmern verschiedenster philippinischen Familien. Immer wieder fuhren wir durch Checkpoints der Philippinischen Armee. Die einheimische Ehefrau des Australiers konnte aber auch ohne Sonderbewilligung alles regeln. Nach der letzten Auslieferung fuhren wir ein letztes Mal quer durch die Stadt Richtung Flughafen. Als wir meinen Koffer aus dem Kofferraum gehievt hatten, wollte ich dem Australier die Fahrt bezahlen. Also überreichte ich ihm eine Note etwa im Wert von einem Nachtessen für sich und seine Frau. Er lehnte ab. Nach einem erneuten Versuch von mir legte er mir die Hand auf die Schulter und sagte mit leiser Stimme: „Wenn du in der Schweiz einen Australier triffst, welcher Hilfe braucht. Hilf ihm.“ Mit diesen Worten im Hinterkopf betrat ich den beinahe menschenleeren Ninoy Aquino International Airport. Das Flugzeug hob ab und landete wenige Stunden später in Osaka, Japan.
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Wer ich bin?Mein Name ist Andrin. Ich komme aus der Schweiz und stehe durchschnittlich zwei mal pro Jahrzehnt vor tektonischen Veränderungen in meinem Leben. |